Ein Augenblick Freiheit – Kritik
Ein Augenblick Freiheit gliedert sich in eine Filmtradition ein, die keine Unterdrückung gestattet und Grenzen anficht.

Man stelle sich die Welt als ein Haus vor. Als ein billiges Hotel, mit Kakerlaken im Spülbecken und so viel Dreck auf den Fensterscheiben, dass Kinder Sonnen, Bäume und Strichmännchen aufs Glas kratzen können. Irgendwo im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Iran. Hinter jedem Fenster eine andere Geschichte – die gleiche Geschichte.
Arash T. Riahi erzählt in seinem Spielfilmdebüt Ein Augenblick Freiheit von der Flucht, von menschenverachtenden Strukturen und fragt, ob Würde manchmal nicht mehr wiegen kann als Leben. Der österreichische Regisseur, selber als Kind aus Iran geflohen, damals noch vor dem Schah, positioniert sich im Film mit Zitaten aus der kurdischen Filmtradition. Wenn Merdad (Pourya Mahyari) und Ali (Navid Akhavan) mit den Kindern Azy (Elika Bozorgi) und Arman (Sina Saba) über schneebedeckte Berge reiten, erinnert die bedrohliche Atmosphäre an Szenen aus Yol (1982) von Yılmaz Güney, die auch Bahman Ghobadi schon in seinem ersten Spielfilm Zeit der trunkenen Pferde (Zamani barayé masti asbha, 2000) zitiert hatte. Es handelt sich dabei nicht um willkürliche Bezüge, sondern um die klare Identifizierung mit einer Filmtradition, die um keinen Preis Unterdrückung dulden will.

In der Provinzstadt Van sitzen iranische und kurdische Flüchtlinge fest. Tagelang stehen sie vor dem UNO-Gebäude an, um die Einreisegenehmigung in ein mittel- oder westeuropäisches Land zu beantragen. Darunter Merdad und Ali, die die beiden Kinder Azy und Arman zu ihren Eltern in Österreich bringen wollen, der Kurde Manu (Fares Fares) mit seinem flucht- und gefängniserfahrenen Weggefährten, dem alten Abbas (Said Oveissi), und schließlich der Aktivist Hassan (Payam Madjlessi), der seine Frau Lale (Behi Djanati Ataï) und den kleinen Sohn Kian (Kamran Rad) nicht beim Schlangestehen vor dem UNO-Gebäude dabeihaben möchte. Wenn er auch über Nacht vor verschlossener Tür warten muss, zittern Mutter und Sohn vor Sorge, alleine im Hotelzimmer. Lale steht bedrückt am Fenster und zweifelt daran, dass es die richtige Entscheidung war, Iran zu verlassen. Hassan, gesenkten Hauptes, weil er mit leeren Händen zurückkehrt, ohne Einreisegenehmigung in ein westeuropäisches Land, schließt sie von hinten in die Arme. Die Kamera fängt die Umarmung von außen durchs Fenster ein und entfernt sich, sodass bald die Hotelfassade, dann andere Fenster zu sehen sind. In diesen sieht man weitere Figuren des Filmes, flüchtig oder als Silhouetten.

Ein Augenblick Freiheit erzählt von der Last, die diese Menschen unverschuldet zu tragen haben, und von ihrem mal leicht-naiven, mal resigniert-schweren Umgang damit. Leicht-naiv etwa, wenn Manu mit leerem Magen einen Schwan jagt, um Abbas ein Huhngericht aus seiner Heimat auf dem Samowar dünsten zu können. Der Schwan allerdings, im Gegensatz zu Manu, darf sein, wo er ist, und dreht den Spieß um: Manu ist wieder auf der Flucht, diesmal vor einem fauchenden Vogel. Es gibt kaum eine Szene, die nicht literarisch ausgearbeitet und reich an Metaphern wäre. Die Polizei stürmt das Zimmer der beiden und durchsucht es nach dem gestohlenen Tier. Eine Feder wird von den Polizeistiefeln aufgewirbelt und schwebt während des Getümmels im Raum umher. Der Schwan wird nicht gefunden. Manu und Abbas atmen auf. Ihr Schicksal ist so prekär, ob es kippt oder nicht so willkürlich, dass etwas Leichtes wie eine Schwanenfeder schon fatal sein kann.

Ein wenig ungenau recherchiert ist der Film, wenn Manu, in Berlin angekommen, sich frei bewegen kann. Dabei drohen Flüchtlingen in Deutschland Haft- und Geldstrafen, wenn sie ihrer sogenannten „Residenzpflicht“ nicht nachkommen. Dennoch: Der Film reiht sich mit seiner Poesie, seiner Leichtigkeit und Tragik in eine Filmtradition ein, die Grenzen anficht, ja diese nicht einmal versteht: „Was machen wir morgen?“, fragt Azy Merdad. „Wir besorgen Papiere.“ „Warum braucht man Papiere?“, fragt das Kind zurück.

Ein Augenblick Freiheit bietet Szenen, die den Zuschauer mit der Faust am Herz packen und gegen den Kinositz drücken – auch Ghobadi gelingt das immer wieder. Hassan, abgelehnt, verzweifelt, zündet sich vor dem UNO-Gäude an und fängt Feuer. Seine trauernde Frau Lale beschließt, in die Heimat zurückzukehren. An der türkisch-iranischen Grenze, wo vor wenigen Wochen, als die Familie noch ganz war, alles begann, drückt sie dem Fluchthelfer ihre Einreisegenehmigung in die Hand: Er solle schauen, ob er nicht Verwendung dafür finde. Er fragt, ob sie sich sicher sei. Sie spannt den Tschador, nimmt ihren Jungen an die Hand und kehrt zurück nach Iran – fortzuführen, was ihr Mann begann, als er sich für einen Augenblick Freiheit anzündete.
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