Wild Life – Kritik

Entführung als Befreiung: Cédric Kahn widmet sich dem Fall eines Mannes, der seine Kinder kidnappt und über Jahre unentdeckt bleibt. Moralischen Fragen weicht er dabei glücklicherweise aus.

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Drei Jungs rennen in den Wald hinein, die Mutter ruft sie zurück. Flüchten müssen sie, alle miteinander, sagt die Mutter, aber die Kinder wollen noch nicht so richtig, einer wehrt sich; schließlich sind doch alle im Auto, eine Freundin fährt sie zum Bahnhof, wieder rennt einer der Söhne weg, versteckt sich bei einer Verwandten im Bad, wird wieder gefunden; gerade noch rechtzeitig im Zug, auf dem Weg zu den Großeltern. Aber dort taucht bald der Vater auf, ruft seine Kinder zu sich, auch wenn die Polizei längst gerufen wurde. Zwei der Kinder reagieren, wollen zum Vater, nächstes Weglaufen, lassen sich nicht fangen von den Großeltern, entwischen Mamas Armen und werfen sich in Papas.

Befreiende Entführung

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Vielleicht fünf Minuten braucht der Film, um das alles zu erzählen, steht in diesen ersten Sequenzen völlig unter Strom: ein ständiges Abhauen, ein Abhauen vom Abhauen, ein Weglaufen vom Weglaufen, immer in Bewegung. Und über diese Bewegungen macht Cédric Kahn bereits die Perspektive deutlich, aus der er sich der wahren Geschichte eines Vaters nähert, der während eines Sorgerechtsstreits zusammen mit seinen zwei Söhne (acht und neun Jahre alt) untergetaucht ist. Denn die Bewegungen der Kinder in Wild Life gehen weg von der Mutter Nora (Céline Sallette), die sie verzweifelt versucht beieinander und bei sich zu halten, hin zum Vater. Die Entführung, mit der dieser Film einsteigt, ist nicht die, um die es später gehen wird, sondern die Entführung der Kinder durch Nora, die genug hat vom Aussteiger-Leben ihrer Hippie-Familie. Nur Spott hat Paco (Mathieu Kassovitz) für ihr Vorhaben übrig, die Kinder der „richtigen“ Gesellschaft zuzuführen. Seine Söhne sollen Freigeister werden wie er, sollen von ihm lernen, nicht in den Schulen der Disziplinar- und nicht durch die Medien der Konsumgesellschaft. Dass er sie schließlich dem Zugriff von Mutter und Gesetz entzieht, erscheint dann eben nicht als Kidnapping, sondern als Befreiung.

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Diese Codierung der Geschichte als jungs-unschuldige Entscheidung gegen die Mutter/Konsumwelt und für den Vater/die Freiheit war von vornherein angelegt in Cédric Kahns Film. Als Grundlage für das Drehbuch hat er sich nämlich nicht jenes Buch genommen, in dem die Mutter von den zehn Jahren erzählt, in denen sie nichts von ihren Kindern hörte, sondern den Bericht des Vaters über das Familienleben auf der Flucht. Trotzdem verdoppelt Wild Life Pacos Perspektive nicht einfach, was sowohl am klugen Drehbuch liegt, das sich nur auf Anfang und Ende des Lebens im Untergrund konzentriert, wie auch an Mathieu Kassovitz, der die entscheidende Balance hält zwischen der Rechthaberei des selbsternannten Nonkonformisten und der verführerischen Aufrichtigkeit seiner Haltungen. Paco ist weder nur liebender Daddy oder Rächer eines Väter diskriminierenden Sorgerechts – wie es der Film zu Beginn noch zu implizieren scheint –, noch ist er der verführerische Dämon.

Mitentführt

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Dass Kahn also die Sicht des Vaters und der Kinder einnimmt und Céline Sallette als Mutter leider viel zu schnell aus dem Film verschwindet – in einer einzigen Sequenz zum Schluss eine ganze Dekade des Schmerzes ausdrücken muss –, das hat wohl vor allem mit seinem Interesse für das Hippie-Leben unter falschen Namen zu tun, das Paco mit den zwei Kindern nun führt. Wild Life nimmt die Kriegsmetapher jedenfalls sehr ernst, die selbst die kleinen Kinder benutzen, weil sie das, was zwischen Mama und Papa passiert, nicht anders benennen können. Das Papa-Söhne-Trio streift bald durch den Wald wie ein Partisanentrupp im Feindesgebiet. Als man sich vorerst sicher fühlt, gefällt sich der Film in Badlands-artigen Impressionen aus dem Landleben: Lagerfeuer, Käsemachen, überall Tiere. Eine einzig große Pfadfinder-Fantasie. Das Grau des Himmels aus den ersten Szenen, das Braun der Interieurs der Spießergesellschaft weichen den Farben der Wildnis und dem grellen Sonnenlicht. Das ist weniger manipulativ als erzählerisch konsequent: So wie die Kinder ihr neues Leben stets durch die Brille des Vaters interpretieren, erleben wir das Ganze als Film, der sich an Pacos Stelle setzt. Wir werden mitentführt, oder eben mitbefreit.

Zehn Jahre später

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Auch wenn wir jetzt meilenweit entfernt sind von den hyperaktiven Handkamera-Bildern der Anfangssequenz, verliert Wild Life auch in diesem zweiten Teil niemals seinen Erzähldrang. Man flüchtet vor der Polizei, für die zwei Kinder ein großes Abenteuer, man lernt eine neue Kommune kennen, Paco eine neue Freundin. Irgendwann kommt die Ellipse und schluckt fast ein ganzes Jahrzehnt. Teenager sind die beiden Söhne nun, der eine steht kurz vor seinem 18. Geburtstag, verliebt sich in ein Mädchen aus dem naheliegenden Dorf, und natürlich geht Papas Plan jetzt langsam vor die Hunde, wie in jeder Familie. Auch hier verweigert sich Kahn zwar nicht den Dialogen, die Konflikte deutlich auf den Punkt bringen, aber doch den klaren Aussagen. Der Entführungs-Befreiungs-Gegensatz jedenfalls ist hinfällig geworden. Weder sind die Kids durch ihr Aufwachsen komplett hirngewaschen, noch sind sie sich sicher, ob sie dem rastlosen Leben so bald wie möglich entsagen wollen. Sie sehen ihren Vater eben nun mit eigenen Augen, und der Film ist wieder ein bisschen grauer geworden.

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