Sivas – Kritik

Kindliche Körper, tierische Körper. Sivas ist kein Kinderfilm, sondern ein Kindfilm, der erwachsen wird und sich dabei zusieht.

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Aslan will Prinz sein, kein Zwerg. Doch für die Schneewittchen-Hauptrolle an der Seite seines Schwarms Ayşe hat der Dorflehrer einen anderen Jungen ausgewählt. Aslan versteht das nicht. Später wird Sivas ein anderer Film sein, aber hier, in der ersten halben Stunde des Spielfilmdebüts von Kaan Müjdeci, dreht sich alles darum, wie Aslan die Welt nicht mehr versteht, weil er lernen muss, jene Realität zu verstehen, die sich dieser Welt bemächtigt.

In diesem Prozess sind wir sofort mittendrin. Die Kamera interessiert sich von der ersten Minute an nicht für die anatolischen Landschaften, die in ihrer Erhabenheit so häufig filmisch verstärkt worden sind, sondern für die Körper, die sie durchstreifen. Vor allem für jenen 11-jährigen Aslan (Doğan Izci), der sich bei einem Schulfreund über die falsche Wahl des Lehrers beschwert; dem ein Pferd entläuft, nachdem er es mit einem Stein beworfen hat; der mit seinem großen Bruder Şahin (Ozan Çelik) rangelt; der so vorsichtig wie bestimmt um die Gunst von Ayşe (Ezgi Ergin) buhlt.

Das Kind im Bild

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Diese Bilder einer Kinderwelt sehen anders aus als viele Bebilderungen von Kindheit, vor allem sind sie so fern von einem dokumentarischen Porträt des Aufwachsens in einem anatolischen Dorf wie von einem Versuch, kindliche Subjektivität filmisch zu vermitteln. Denn gerade wenn sich das Kino die kindliche Perspektive zu eigen macht – gleich, ob es damit ein konkretes Kind oder das Kind als abstraktes Konzept meint –, bleibt doch häufig alles beim Alten, wird doch nur der erwachsene Blick ins Kind verlagert, um von dort aus nach reiner, unschuldiger Wahrheit zu suchen, nach dem Leben, wie es wirklich ist. Ein sehr erwachsener Zweck, für den der Zustand des Kindseins eine Prämisse ist, gar nicht erst geprüft werden muss. Ein Rück-Blick, den das Zurück mehr interessiert als das Blicken. Zwar ist die Kamera von Armin Dierolf und Martin Solvang auch in Sivas fast immer auf Augenhöhe der Kinder, niemals aber in den Kindern drin. Wenn diese sich in Gruppen durch ein Tor drängeln, dann ist sie zwischen ihnen, drängelt mit, weicht zurück – bleibt autonom.

Das Bild als Kind

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Die Kamera wird vielmehr selbst zum Kind, und dieses Kindsein ist nicht Zustand, nicht point of view, sondern eine andere Form der Erschließung einer anderen Form von Welt. Mit den konkreten Kindern in Sivas hat dieses ästhetische Kindsein nur insofern etwas zu tun, als dass die Verteilung der Körper im Bild ein wenig aus den Fugen gerät. Physik statt Psychologie: Die Kinder der ersten halben Stunde sind in mehrere Anorak-Schichten gehüllte, massive Präsenzen, aus denen, gewaltig und fordernd, wichtige Sätze sprechen. Die Erwachsenen dagegen sehen wir nicht von unten, sondern an den Rand gedrängt, stets mehrere Bilddiagonalen entfernt, fast körperlose Wesen. Als Verlängerung, als Peripherie, als Reibungsfläche der kindlichen Welt treten sie erst langsam in den Film hinein. Zerstören diese Welt dann, breiten sich allmählich im Bildrahmen aus.

Das Bild als Tier

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Denn nicht nur hat Aslan bald zu lernen, was Erwachsensein in dieser Welt bedeutet, auch der Film muss sich seiner Coming-of-Age-Geschichte beugen. Nachdem Aslan und Şahin einen brutalen Hundekampf gesehen haben, interessiert sich der Junge für den schon für tot gehaltenen Verlierer. Doch Sivas lebt. Aslan versucht vergeblich, seinen Bruder davon zu überzeugen, den Hund mitzunehmen; bleibt schließlich allein bei dem Tier, bis in die Nacht. Irgendwann steht Sivas auf, als hätte er nur darauf gewartet, dass jemand an seine Wiederauferstehung glaubt. Kind und Hund sitzen sich schweigend gegenüber, eine Szene wie aus einem Disney-Film, nur dass Sivas nicht zu sprechen beginnt. Doch bekommt er jetzt sein eigenes Close-up, die Augen werden zwei riesige Kreise auf der Leinwand, die Gesichtszüge eine erhabene Landschaft – ein Körper, der keine Bedeutung trägt, weil er schon den ganzen Cinemascope-Kader ausfüllt. So wie in den Anfangsszenen die Erwachsenen nur über den Umweg Aslan in den Film gelangen, wird nun der Junge selbst auf Abstand gehalten, an den Rand gedrängt, einbezogen nur durch den tierischen Blick, der keine psychologische Perspektive ist, sondern physische Präsenz. Der Film, nun Tier geworden, ist damit zugleich in seinem innersten Zentrum wie an seinem äußersten Rand. Derselbe Körper, der die Erzählung in den Gang setzen wird, setzt sie noch einmal vollständig außer Kraft.

Das Tier im Bild

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Ein Junge, ein Hund, eine gemeinsame Nacht im Wald; ein so glückseliger wie tragischer Moment. Sivas kann hier nicht bleiben, noch weniger als bei den Kindern zu Beginn des Films. Und so wird die Szene noch in der Nacht von Şahins Taschenlampe erhellt, der seinen Bruder sucht und Aslan schließlich erlaubt, das Tier mit nach Hause zu nehmen. Damit wird der Hund vom Körper zum Objekt, beeindruckt fortan die Klassenkameraden, wird zur Flirtressource in den Gesprächen mit Ayşe. Nicht nur für Aslan, auch für den Film nimmt Sivas jetzt eine Funktion an, als Zündschnur fürs Narrativ wie als Metapher für sein großes Thema. Der Hund wird zur Coming-of-Age-Maschine, beschleunigt die Ausbildung eines Selbst-Verständnisses als Person mit Besitz, Status und dem Streben nach Anerkennung (ein grundsätzlich anderes Begehren als der anfängliche Wunsch, ein Prinz zu sein.) Schließlich ist Sivas auch Geldquelle, kämpft um Meisterschaften, wird zum Champion. Dass der Film die grausamen Hundekämpfe nicht nur visuell ausgestaltet, sondern ihnen gegenüber eine „neutrale“ Haltung einnimmt – wie seit seiner Premiere kritisch angemerkt wurde –, liegt eben daran, dass dies sein Thema nicht ist. Weil die physische Zurichtung des Tieres nur die psychische Zurichtung des kleinen Jungen spiegelt, der bald nicht mehr massiver Körper ist, sondern nur noch Teil einer mit jedem Wettkampf anwachsenden und neben Aslan ausschließlich aus erwachsenen Männern bestehenden Masse, die lautstark ihre tierischen Schützlinge anfeuert. Die filmische Bewegung von den Augen des Hundes zu seinem versehrten Körper: ein Mann-werden.

Das Ende der Welt

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In diesen Szenen ist Aslan schließlich als das Kind erkennbar, das er ist – eben weil der Film erwachsen geworden ist. Kindsein, das ist ein auch für die zunehmend auf Distanz gegangene und nunmehr die Realität vermessende Kamera ein erkennbarer Zustand, aus dem man irgendwann austritt. Erwachsenwerden, das heißt zunächst: erkennen, dass man Kind ist; vergessen, dass dieses Kindsein eine Welt war. Vielleicht endet Sivas auch deshalb so merkwürdig unabgeschlossen, weil er weniger der Coming-of-Age-Film ist, als der er sich ausgibt, als dessen Prequel. Es geht nicht um den Verlust von Unschuld, sondern darum anzuerkennen, dass es überhaupt etwas zu verlieren gibt; dass das Überschreiten der Schwelle keine Bewegung ist, sondern nur zwei Zustände festschreibt; dass es am Ende doch nur die eine Welt gibt. Die Einhegung des Tieres ist für all dies Voraussetzung.

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