Captain Fantastic - Einmal Wildnis und zurück – Kritik

Wenn Familie Flodder Noam Chomsky liest: Matt Ross lässt ein Roadmovie über eine Außenseiterfamilie in Richtung Konsens rollen. In Sundance und Cannes wurde der Film erwartbar gefeiert.

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Weihnachten ist der siebte Dezember. Familie Cash feiert nicht die Geburt des Herrn, sondern die Geburt von Noam Chomsky. Die Geschenke für die Kinder sind Bowie-Messer, Jagdbögen und für die Jüngste eine Ausgabe von „The Joy of Sex“. Das ist natürlich nur ein Scherz des Vaters: Auch die Sechsjährige bekommt ihr Jagdmesser. Ben Cash (Viggo Mortensen) und seine Familie leben in der Wildnis. Der alleinerziehende Vater unterrichtet seine sechs Kinder in allem, was für das Überleben notwendig ist: Pirschjagd, Nah- und Messerkampf, Pflanzenzucht, Jared Diamond, Chomsky, Marx und Dostojewski. Abends findet sich die Familie dann am Lagerfeuer ein, wo die gemütliche Runde in eine Jamsession übergeht. Doch dem Leben im nachhaltigen Paradies fehlt ein Elternteil. Leslie (Trin Miller), die Mutter der sechs Kinder, ist infolge einer Depression im Krankenhaus. Während die Kinder noch auf ihre Rückkehr warten, begeht sie Selbstmord.

Mama Mortensen

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Nun ist es an Ben, seine Rolle als Captain Fantastic anzunehmen und die Familie durch die Zivilisation zu führen, um der Mutter ihren letzten Willen zu erfüllen. Die Zerreißprobe, die jeder Tragikomödie anlastet, trägt Viggo Mortensen als Ben Cash zu großen Teilen gleich mit. Er ist gleichermaßen Familienoberhaupt und das entscheidende Bindeglied des Films. Mortensen gibt dem charmant überheblichen Hochkultur-Lederstrumpf die Aura eines aufrichtigen, warmherzigen Vaters, die auf die Jungdarsteller abzustrahlen scheint. „Power to the people!“ und „Stick it to the man!“ werden, von den Kindern ausgerufen, zu zärtlichen Kampfansagen, die die Konsequenz der Erziehungsmethoden zwischen Überlebenstraining und Wissenschaft widerspiegeln. Mit diesen führt Ben seine Familie nun im umgebauten Familien-Schulbus in die Gesellschaft, der er selbst abgeschworen hat. Damit ist auch die Grundkonstellation für den Roadtrip als Kampf der Kulturen erklärt: Man ist schlecht aufeinander vorbereitet.

Sparring mit der Zivilisation

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Der große Showdown zwischen analoger Survival-Hochkultur und digitaler Supermarkt-Popkultur ist genau dort komisch, wo sich die Zivilisation als harmloser Sparringspartner zeigt. Ein Polizist, der sich wundert, warum die Kinder nicht in der Schule sind, wird mit einer kleinen Schauspieleinlage überwältigt, in der die Cash-Sprösslinge sich als Bande von privat unterrichteten Jesusfreaks ausgeben, die mit lautstarkem Gesang den Herrn lobpreisen. Diese Kollisionen der Familie mit Zivilisationskrankheiten Amerikas erinnern an die unbeschwerte Symbiose von Farce und Satire aus Jonathan Dayton und Valerie Faris’ Little Miss Sunshine (2006). Wo die Begegnungen mit der Zivilisation persönlicher werden, rückt auch der Ernst der Frage, ob Familie Cash in der Zivilisation bestehen könnte, in den Vordergrund. Als alte Familienfreunde zu Besuch sind, empfehlen sie Ben eindringlich eine klassische Schulerziehung für seine Kinder. Ihre Argumente gehen jedoch schnell aus, als ihre Söhne sich im Bildungsvergleich nicht darauf einigen können, ob die Bill of Rights ein „politisches Ding“ oder eine Münze ist, während Bens jüngster Sohn die Zusatzartikel mühelos aufzählt und kommentiert. Gänzlich in der Diskussion um Lebensmodelle angekommen, schlägt die Familie schließlich bei Großvater Jack (Frank Langella) auf, der sich als unbarmherziger Verteidiger der Zivilisation gibt. Bens Garten Eden ist für Jack Kindesmissbrauch, entsprechend lässt er ohne Umwege die Staatsgewalt gegen seinen Schwiegersohn vorrücken.

Aus dem Dschungel in den Konsens

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Die harten Bandagen, mit denen Ross seine Protagonisten gegeneinander antreten lässt, müssen natürlich begründet und abgewogen werden. So bremst sich der lebendige Schlagabtausch auf das Tempo eines Briefwechsels runter. Bei dem Versuch, die verschiedenen Weltanschauungen seiner Protagonisten zu einem inhaltlichen und vor allem nach außen getragenen Konsens zu formen, kommen Tragik, Komik und die Leichtigkeit des Roadmovies unter die Räder. Es bleibt der Konsens, im Kino selten eine belebende Kraft, der die archaische Energie, mit der die Außenseiterfamilie ihre Reise antritt, auf gesellschaftsverträgliches Niveau zähmt. Wut, Trauer und der kindliche Blick, die den Film auf ekstatische Höhen bringen, hält Matt Ross über die vielen Kilometer des Roadtrips nicht durch. So rollt Captain Fantastic in pflichtbewusstem Gestus seiner Gesellschaftseingliederung entgegen, während ich sehnsüchtig auf die schönen Entgleisungen und meinen ersten Chomsky-Day zurückblicke.

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Kommentare


Michael Blondblue

Nun gut, über Geschmack kann der Filmseher streiten.

Aber ganz so schlecht, wie mancher Film da stehen läßt, ist er nicht. Ich bin selbst überrascht gewesen, denn der Filmtitel ließ Einiges erwarten. Dass ich allerdings so überrascht wurde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Klar ist der Film bzw. die Handlung an manchen Stellen widersprüchlich und überzeichnet. Dass muß er/es auch, denn in der derzeit so polarisierten Welt, muß den Zuschauern klar werden, worum es eigentlich geht. Und ich dachte nach dem Film, war schon fast ein bißchen Anarchie und war froh darum. Jedoch ein paar Tage später lese ich Worte von Filmkritikern Online und in manchen Gazetten. Die halten sich an Nebenschauplätzen auf und bei ihren Filmbesprechungen lassen sie aus, dass der Film berührt, eben weil er insich nicht nicht perfekt ist und kleine Schwächen haben mag. Ich sah den Film in Berlin, in einer 16.30 Uhr - Vorstellung im Original und da wirkte er auf Lachmuskel, Tränendrüse und Herz gleichermaßen.
Dass der Film fiktiv ist und die Handlung anders wie z.B. bei Into the Wild, nicht wirklich stattgefunden hat bzw. stattfinden kann, dürfte klar sein. Mich hat der Film mal wieder wachgerüttelt (im Sinne von erinnern, was wichtig ist) und als ich aus dem Kino kam und ein wenig wehmütig wurde, war mir klar, ich laufe durch eine Metropole, die mal so unique war, die jetzt 0815 dahin wächst und in der, ich hoffe, ich trete jetzt niemandem zu nahe, irgendwelche Hipster, Filme kritisch besprechen.
Der Weckruf lohnt sich!






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